Wie wirkt sich das Coronavirus auf die Digitalisierung der medizinischen Versorgung aus? Wird die Digitalisierung das Gesundheitswesen verändern? Wir haben unseren Experten für die Gesundheitswirtschaft gefragt.

Die Coronakrise hat unser Leben verändert. Aber bleibt das nun so? In unserer Reihe Ändert sich jetzt alles? sprechen wir mit Expertinnen und Experten der Europäischen Investitionsbank über die Auswirkungen von Covid-19 auf die Bildung, Digitalisierung, Mobilität in Städten und Medizin – und auf unser tägliches Leben.

Was das Coronavirus für den öffentlichen Sektor bedeutet, erklärt uns Marcin Golec, Arzt und Gesundheitsökonom in der Abteilung Life Sciences der Europäischen Investitionsbank. Golec erläutert, wie die Digitalisierung zu einer beschleunigten Bewertung der Wirksamkeit von Behandlungen beitragen könnte – sowohl mit Blick auf die Coronapandemie als auch auf nichtübertragbare Krankheiten wie Diabetes oder Krebs.


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Wird das Coronavirus das Gesundheitswesen nachhaltig verändern? Und wenn ja – wie und warum?

Die Coronapandemie ist weltweit eine Generationenerfahrung, vor allem im Gesundheitssektor. Wird sie den Sektor verändern? Ich glaube bzw. ich hoffe, dass Covid-19 die Veränderungen, die sich schon vor Ausbruch der verheerenden Pandemie abzeichneten, erheblich beschleunigen wird. Dabei denke ich an die Digitalisierung des Gesundheitswesens, also die Nutzung des Potenzials digitaler Technologien, die in anderen Sektoren bereits eingeführt wurden. Hier hinkt der Gesundheitssektor hinterher. Die zweite – mit der Digitalisierung verbundene – Veränderung ist die Beschleunigung der medizinischen Forschung und speziell die raschere Umsetzung medizinischer Forschungsergebnisse in die Praxis.

Können Sie das näher erläutern? Wie können wir medizinische Forschung in die Praxis umsetzen?

Heute werden große Supercomputer eingesetzt, um klinische Daten und Moleküle so schnell wie möglich zu analysieren – als Grundlage für die Entwicklung neuer Medikamente und Impfstoffe gegen Covid-19. Diese Rechenleistung, kombiniert mit Daten, wird die Anwendung medizinischer Forschungsergebnisse beschleunigen. Darüber hinaus können wir die Einführung neuer Medikamente, Therapien und Diagnoseverfahren sicherer gestalten, wenn wir ein Gesundheitswesen haben, das ein Monitoring der Patientinnen und Patienten kombiniert mit Telemedizin erlaubt.

Können Sie uns mehr über die neuen Ansätze und Produkte erzählen, die wir für künftige Herausforderungen brauchen?

Nun, ich denke hier nicht nur an die Krankenhäuser, sondern an die Digitalisierung im gesamten Gesundheitssektor. Nehmen wir die elektronische Patientenakte, die man in Krankenhäusern, aber auch in anderen Gesundheitseinrichtungen nutzen kann.

Welche Möglichkeiten eröffnen sich dadurch? Ärztinnen und Ärzte im Krankenhaus könnten Patientendaten einsehen und analysieren, um unmittelbar Schlüsse daraus zu ziehen. Sie könnten ihr Wissen über die Patienten von heute auch für die Behandlung der Kranken von morgen nutzen. Außerdem gibt die Telemedizin oder M-Health [mobile Gesundheit] uns Werkzeuge an die Hand, mit denen wir den Gesundheitszustand von Patientinnen und Patienten nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus beobachten können. Aktuell kommen Quarantäne-Apps zum Nachverfolgen von Patienten oder anderen Personen in Quarantäne zum Einsatz. Diese Apps könnten genauso gut dazu genutzt werden, den Gesundheitszustand der Betroffenen zu beobachten und schnell ärztlichen Rat bereitzustellen.

Was wir ebenfalls alle sehen, sind Hotlines. Diese Hotlines sind jetzt überlastet. Wir könnten jedoch Voicebots für die Beantwortung von Anrufen einsetzen und Anrufende nur in schwierigen Fällen mit Ärztinnen und Ärzten verbinden. In einigen Ländern geschieht dies bereits.

Wie schwierig ist es für den Gesundheitssektor, diese neuen Technologien anzuwenden? Was in der aktuellen Krise macht Ihnen Hoffnung, oder sehen Sie eher Indizien für einen Aufholbedarf?

Eher Letzteres, muss ich sagen, aber das ist keine Überraschung. Alle Änderungen, die im Gesundheitswesen eingeführt werden, sind komplex und riskant und erfordern ein umsichtiges Vorgehen. Die Digitalisierung des Gesundheitssektors ist ein höchst komplexer Prozess, der enorme Investitionen und Zeit erfordert – in einem Monat oder einem Jahr ist das nicht zu schaffen. Zusätzlich brauchen wir enorme personelle Ressourcen. Wir brauchen medizinische Fachkräfte mit neuen Kompetenzen. Wir brauchen gesetzliche Änderungen. Wir brauchen die Bereitschaft der Gesellschaft. Wir brauchen neue Fachkräfte im Gesundheitssektor, beispielsweise mehr IT-Spezialisten, Mathematiker, Datenanalysten. Das Ökosystem des Gesundheitswesens wird sich verändern.

Wird die Digitalisierung des Gesundheitswesens auch Bedenken auslösen, beispielsweise beim Datenschutz? Wird es Menschen schwerfallen, diese Änderungen zu akzeptieren?

Medizinische Daten sind absolut persönlich und vertraulich und müssen geschützt werden. Das ist definitiv eine der größten Herausforderungen – und die Cybersicherheit medizinischer Daten, vor allem, wenn die Digitalisierung sich über den gesamten Sektor erstreckt. Ich glaube daher, dass wir zusätzlich Fachkräfte wie IT-Spezialisten brauchen, um Datensicherheit zu gewährleisten. Darüber hinaus wird die Digitalisierung neue Regelungen erfordern. Wir brauchen also Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, die neue Vorschriften zum Schutz von Patientendaten aufstellen und umsetzen. Dann können wir darauf vertrauen, dass wir alle von dem neuen, digitalisierten Gesundheitssektor profitieren werden.

Wird die Digitalisierung die Bereitstellung der medizinischen Versorgung verändern?

Vor 50 Jahren gab es außer Röntgenaufnahmen keinerlei bildgebende Verfahren. Ärztinnen und Ärzte waren in gewisser Hinsicht blind, sie konnten nicht in unseren Körper hineinschauen. Heute haben wir die Computertomografie (CT) und die Magnetresonanztomografie (MRT). Das war vor fünfzig Jahren nicht möglich. Ich glaube, die Digitalisierung des Gesundheitssektors stellt eine vergleichbare Situation dar.

Ärztinnen und Ärzte erhalten Einblick in unsere Daten, Behandlungen und Diagnosen werden wesentlich sicherer, schneller, besser, genauer und stärker personalisiert. Die Medizin kann unsere Gesundheitsprobleme künftig viel effizienter angehen als heute.

Das gilt auch für Situationen wie die Pandemie, in der einige Länder wie Taiwan [schon damit arbeiten]. Wo digitale Technologien effizient angewendet wurden, konnte die Ausbreitung der Pandemie eingedämmt werden. Diese Vorteile werden sich auch auf Krankheiten wie Krebs und andere nichtübertragbare Krankheiten wie Diabetes, Herzkreislauferkrankungen etc. erstrecken.

Welche Rolle spielt die Europäische Investitionsbank dabei? Wie fördern wir diese Veränderungen und neue Technologien?

Es war der EIB stets ein Anliegen, die Digitalisierung des Gesundheitssektors im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen zu unterstützen. Wir haben technologische und nicht-technologische Innovationen im Gesundheitswesen immer gefördert. Wenn wir nun in der Pandemie den Gesundheitssektor betrachten, sehen wir gewaltige Investitionslücken. Darauf will die EIB reagieren.

Was kann die Bank tun? Wir können unseren Projektträgern, unseren Kundinnen und Kunden schon frühzeitig, also bereits ab der Planung der Digitalisierung des Sektors, mit Rat und Tat zur Seite stehen. Wir können maßgeschneiderte langfristige Finanzierungen bereitstellen. Denn Digitalisierung und medizinische Forschung erfordern Investitionen in Milliardenhöhe.

Die EIB ist ein internationales Finanzierungsinstitut, das – im Gegensatz zur Weltbank – in Ländern mit sehr hohem Einkommen tätig ist. Das eröffnet uns die Möglichkeit, in der medizinischen Forschung und im Bereich E-Health Entwicklungsaktivitäten auf Spitzenniveau zu finanzieren. Damit geht jedoch auch eine Verpflichtung einher.

Der WHO zufolge sind in reichen oder einkommensstarken Ländern 45-mal mehr medizinisch Forschende angesiedelt als in armen Ländern. Deshalb ruht die Hoffnung im Kampf gegen Covid-19 auf unseren Schultern.

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