Ein deutsches Institut bildet Menschen mit Behinderungen aus, damit sie die Gesellschaft offener machen

Samuel Wunsch hat seine ganz persönliche Berufung gefunden: Er will die Barriere zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen überwinden.

„Ich möchte Menschen ohne Behinderungen helfen, ihre geistigen Schranken abzubauen. Sie sollen erkennen, was Menschen mit Behinderungen leisten können. Und sie sollen lernen, nichts im Leben als selbstverständlich zu betrachten.“

Wunsch hat eine leichte geistige und körperliche Behinderung und Lernschwierigkeiten und arbeitet als Bildungsfachkraft an der Universität Kiel. Seine Aufgabe ist es, den Studierenden die Welt der Menschen mit Behinderungen zu vermitteln – und diese Welt durch die Teilnahme am Campusleben auch für Lehrkräfte und alle anderen Beschäftigten der Universität sichtbar zu machen.

An seine Arbeit ist er durch das Institut für Inklusive Bildung gekommen. Das Institut will eine Brücke bauen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung. „In Deutschland gibt es immer noch eine systematische Trennung zwischen beiden Gruppen. Das ist ein ziemliches Problem unserer Gesellschaft“, sagt Annika Hase vom Institut für Inklusive Bildung.

Das Qualifizierungsprogramm des Instituts entstand 2013. Geistiger Vater ist der Unternehmer und ehemalige Professor für Sozialmanagement Jan Wulf-Schnabel. Schnabel „wollte die enorme Kluft zwischen den zwei getrennten Welten überwinden: den Menschen mit sogenannten geistigen Behinderungen auf der einen Seite und der Welt der Hochschulexzellenz auf der anderen“, so Hase, die das Programm an neuen Standorten organisiert.

Für eine offenere Gesellschaft

Das Programm besteht aus einer dreijährigen Ausbildung, in der die künftigen Bildungsfachkräfte zunächst lernen, Präsentationen vor den Studierenden zu halten. „Die Teilnehmenden halten an den Universitäten Vorlesungen, geben Seminare und erzählen über ihr Leben und ihre Bedürfnisse als Menschen mit Behinderungen. Und sie diskutieren mit den Studierenden darüber, wie sich die Gesellschaft wandeln muss, um offener zu werden“, erklärt Hase. Nach dem Abschluss als qualifizierte Bildungsfachkraft folgt der Schritt auf den Arbeitsmarkt – entweder an der ausbildenden Universität oder vermittelt über das Institut.

Normalerweise sieht der Werdegang von Menschen mit geistiger Behinderung in Deutschland anders aus: Nach dem Besuch einer speziellen Schule folgt meist eine manuelle oder handwerkliche Tätigkeit in besonderen Werkstätten.

In Deutschland arbeiten rund 320 000 Menschen mit Behinderungen in 734 speziellen Werkstätten, so Hase. „Auf der anderen Seite haben wir drei Millionen Studierende an 530 Universitäten, und diese beiden Gruppen wollen wir zusammenbringen. Die Studierenden sollen ihre Berührungsängste verlieren und gleichzeitig Menschen mit Behinderungen und ihre Kompetenzen anerkennen. Wir wollen, dass sie sehen, was diese Menschen alles an Fähigkeiten mitbringen.“

Auch Samuel Wunsch hat mehrere Jahre in einer Werkstätte für Menschen mit Behinderungen gearbeitet. Der Schritt in eine neue Arbeit hat sein Leben verändert. „Am Anfang war die Arbeit in der Werkstätte sehr schön“, erinnert er sich. „Aber mit der Zeit wurde es langweilig. Ich brauchte eine neue Herausforderung.“

2013 sah er dann eine Anzeige für das Projekt für inklusive Bildung und bewarb sich. „Von da an wusste ich: Das ist genau das, was ich machen will. Ich habe meine ganz persönliche Berufung gefunden.“

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Samuel Wunsch (rechts) mit zwei seiner Studierenden

Wunsch lernte im Team zu arbeiten, mit seinen Emotionen umzugehen und Konflikte zu regeln. „Mir ist jetzt viel bewusster, wie sich die Lebensweise und die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen unterscheiden“, sagt er. „Heute kann ich sehr kreativ tätig sein und lebe mein eigenes Leben. Eine weitere große Veränderung: Ich arbeite jetzt für die Universität Kiel.“

Tausende Studierende als Multiplikatoren

Das Institut für Inklusive Bildung finanziert sich hauptsächlich aus Zuschüssen. Weitere Einnahmen bringt die Einführung des Qualifizierungsprogramms an anderen Hochschulen. Das Institut unterstützt und berät andere Projektteams in Deutschland dabei, Programme an Universitäten umzusetzen. Bisher gibt es die Qualifizierung zur Bildungsfachkraft noch an sechs weiteren deutschen Hochschulen. Ab 2023 will das Institut mit 60 aktiven Bildungsfachkräften jedes Jahr über 50 000 Studierende erreichen – und die werden dann wiederum weitere Studierende sensibilisieren, erklärt Hase.

Langfristig will das Institut auch international expandieren. Universitäten in Irland, England, Österreich und anderen Ländern haben bereits Interesse bekundet.

Das Institut gewann beim Wettbewerb für Soziale Innovation 2021 den mit 30 000 Euro dotierten zweiten Preis. Mit dem Wettbewerb würdigt das EIB-Institut Unternehmen, die Lösungen für ökologische und gesellschaftliche Herausforderungen finden. Daneben hat das Institut für inklusive Bildung noch zahlreiche andere Auszeichnungen erhalten. 2016 wurde Jan Wulf-Schnabel als Ashoka Fellow ausgewählt – eine Auszeichnung für Unternehmer, die sich dafür einsetzen, die Gesellschaft zum Positiven zu verändern.

Das tun auch die Bildungsfachkräfte auf dem Campus, wie Annika Hase erklärt.

 „Wir hören von vielen Studierenden, dass unsere Seminare ihr erster Berührungspunkt mit Menschen mit Behinderungen waren. Es gibt also Handlungsbedarf. Wir alle müssen wissen, wie wir mit Menschen mit Behinderungen umgehen und was in einer solchen Situation von uns verlangt wird.“

Samuel Wunsch sieht, dass die Arbeit vielen Menschen hilft, das Thema Behinderung mit anderen Augen zu betrachten.

„Letzte Woche haben wir eine Vorlesung vor über 200 Studierenden gehalten. Die waren hinterher unglaublich beeindruckt und dankbar. Sie haben uns gesagt, dass wir wirklich etwas in ihnen verändert haben und dass sie jetzt einen anderen Blickwinkel haben.“